Offener Brief
der Synode des Synodalverbands Grafschaft Bentheim der Ev.-ref. Kirche
an ihre Gemeinden
„Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
(Matthäus 5,9)
Die Synode des Synodalverbands Grafschaft Bentheim der Ev.-ref. Kirche hat sich anläss-
lich ihrer Tagung am 27. April 2010 in Neuenhaus mit der Situation in Afghanistan befasst.
Sie erklärt ihre große Besorgnis über die Umstände und Konsequenzen des Einsatzes der
Bundeswehr. Angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer und der bedrückenden Todesfälle
der letzten Wochen unter den in Afghanistan stationierten Angehörigen der Bundeswehr
stellt sich unabweisbar die Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung der Beteiligung
bundesdeutscher Truppen an internationalen Einsätzen und nach ihrer ethischen Beurtei-
lung.
Der Bundeswehreinsatz folgt dem Konzept der „vernetzten Sicherheit“, also der „zivilen
Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Dazu gehören die Zusam-
menarbeit mit dem zivilen Umfeld, die Erhöhung der Akzeptanz des Einsatzes bei der Zi-
vilbevölkerung sowie der Beitrag zur Operationsplanung und Durchführung. Eingeschlos-
sen ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
In Afghanistan wird Krieg geführt. Dies wird seit Kurzem auch im Sprachgebrauch offiziel-
ler Stellen in Deutschland so benannt. Über die gefährlichen Absichten des Gegners der
NATO-Truppen kann kein Zweifel bestehen. Es bleibt dennoch unsere ständige Aufgabe,
die Frage nach der Legitimität dieses Krieges zu formulieren. Für die Beurteilung dieser
Frage hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Kriterien aufgestellt:
• Sind alle legitimen Mittel (Diplomatie, Sanktionen, Ultimaten der Völkergemeinschaft)
ausgeschöpft?
• Liegt tatsächlich eine Situation vor, die nur unter Androhung von Gewalt und mit polizeili-
chen oder militärischen Maßnahmen begrenzt oder beendet werden kann?
• Ist das Kriegsziel für eine Intervention politisch benannt und öffentlich bekannt?
• Sind die Einsatzziele durch Bundestags-, UNO- und NATO-Mandate legitimiert?
• Ist eine Eindämmung von Gewaltstrukturen, das Entstehen öffentlicher Ordnung und ei-
ner legitimierten politischen Führung erkennbar (Schutz der Bevölkerung, Wiederaufbau,
Übertragung polizeilicher Verantwortung, Schaffung selbsttragender Strukturen, Aufbau
einer politischen Ordnung)?
• Führen die konkreten Maßnahmen des jeweiligen Auslandseinsatzes im Einsatzland zu
tatsächlichen zivilen und gesellschaftlichen Fortschritten?
• Gibt es eine Strategie, wann und unter welchen Bedingungen der Einsatz wieder been-
det wird?
Die Synode des Synodalverbands Grafschaft Bentheim ist überzeugt, dass die von der
EKD genannten Grenzen und Kriterien nicht mit der Wirklichkeit des Auslandseinsatzes
der Bundeswehr in Afghanistan zu vereinbaren sind. Die Ereignisse der vergangenen Mo-
nate seit der Bombardierung von Zivilisten im September 2009 haben das gezeigt. Es ist
keine überzeugende ISAF-Strategie zu erkennen, mit der die Lage zum Positiven hin zu
verändern wäre:
• Die Taliban haben ihren Einflussbereich erheblich ausgeweitet.
• Das El Qaida-Netzwerk ist nicht zerschlagen, sondern mit seinen Camps auch in andere
Länder ausgewichen.
• Die Befriedung des Landes und seiner zahlreichen Volksgruppen ist schwierig.
• Der Aufbau einer eigenen afghanischen Polizei und afghanischer Truppen in ausrei-
chender Zahl wird noch Jahre in Anspruch nehmen.
• Die Einrichtung „selbsttragender Strukturen“ zusammen mit einer nur schwach demokra-
tisch legitimierten Regierung ist schwer zu realisieren.
Die Synode maßt sich nicht an, aus der Ferne kluge Ratschläge geben zu können, die der
Wirklichkeit und ihren harten Erfordernissen gerecht werden. Die Synode bezweifelt aber,
ob die in Afghanistan verfolgten Ziele den Einsatz von Leben und Gesundheit deutscher
Bundeswehrangehöriger rechtfertigen. Werden in Afghanistan tatsächlich Interessen unse-
res Landes verteidigt - Interessen, die der Konfrontation mit der Trauer und Verzweiflung
von zurückgelassenen Eltern, Ehefrauen, Ehemännern und Kindern standhalten können?
Zu den Aufgaben der Kirche angesichts kriegerischer Konflikte gehört es,
• den Sinn militärischer Interventionen grundsätzlich zu hinterfragen,
• mit allen Menschen Schritte auf dem Weg zu einem gerechten Frieden zu suchen,
problematische Vorgänge zu benennen, vor Irrwegen zu warnen,
• den Angehörigen der getöteten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und den Fami-
lien der zivilen Opfer durch konkrete Hilfsmaßnahmen beizustehen und sie seelsorglich
zu begleiten,
• Kriegsdienstverweigerer zu unterstützen,
• für alle Beteiligten zu beten.
Die Synode des Synodalverbands Grafschaft Bentheim der Ev.-ref. Kirche geht mit diesem
offenen Brief einen Schritt in diese Richtung. Sie ist sich der Vorläufigkeit und Bruchstück-
haftigkeit ihres Handelns bewusst.
• Die Synode bittet die Gemeinden, sich an der politischen Debatte über die hier bedach-
ten Fragen aus christlicher Verantwortung heraus an ihrem je eigenen Platz zu beteili-
gen.
• Die Synode bittet die Gemeinden, sich der seelsorglichen Verpflichtung gegenüber
heimgekehrten und womöglich traumatisierten Soldatinnen und Soldaten zu stellen und,
wo immer dies geboten und möglich erscheint, Angebote der Begleitung zu machen.
• Die Synode bittet die Wehrpflichtigen und Wehrdienstleistenden in den Gemeinden, sich
unter den herrschenden Bedingungen besonders gründlich zu prüfen, ob sie den Dienst
mit der Waffe mit ihrem Gewissen vereinbaren können.
• Die Synode bittet die Politiker, im Gespräch mit Vertretern aller gesellschaftlichen Grup-
pen über den Einsatz in Afghanistan nicht nachzulassen und dafür Sorge zu tragen, dass
dieses Thema in der öffentlichen Debatte endlich den Rang erhält, der ihm zusteht.
Die Synode ruft die Gemeinden auf, Ratlosigkeit und Schmerz angesichts der ausweglos
erscheinenden Situation im Gebet vor Gott zu bringen und ihn zu bitten, unsere Suche
nach neuen Wegen aus dem Konflikt zu segnen.